Was leistet moderner Geschichtsunterricht für die Gesellschaft?
Deutschunterricht soll Schülern die eigene Sprache näher bringen, Englischunterricht ihnen eine Weltsprache so lehren, dass die Schüler sie auf der ganzen Welt als Kommunikationsmedium nutzen können und Mathematikunterricht soll sie befähigen, Probleme logisch zu lösen. Doch warum lernen Schüler heutzutage noch Geschichte?
Für die Beantwortung dieser Frage benötigt es eines Beispiels: Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, wie der Arabische Frühling seit 2010 oder die Krim-Krise 2014 zeigen am deutlichsten, was moderner Geschichtsunterricht leisten kann und leistet. Diese aktuellen Ereignisse sind vielschichtig und von einer Vielzahl an Faktoren und Interessensgruppen beeinflusst. Einem Menschen, der nie Geschichtsunterricht hatte, wird es schwer fallen, die relevanten Hintergründe zu erkennen, sowie die Aussagen verschiedener Beteiligter so zu interpretieren, dass ein kohärentes Bild entsteht, das das Ereignis annähernd erklärt. Eine solche Interpretationsfähigkeit ist nach der Schulzeit nicht nur für Politiker, Investoren oder Firmenchefs notwendig, sondern für jeden europäischen Bürger wichtig.
Moderner Geschichtsunterricht unterliegt zur Umsetzung einer solchen Vorbildung sieben Hauptprinzipien der Geschichtsdidaktik, die hier im Folgenden kurz erklärt werden:
– Multiperspektivität
– Handlungsorientierung
– Problemorientierung
– Alteritätserfahrung
– Werterziehung
– Anschaulichkeit durch didaktische Reduktion
– Personalisierung / Personifizierung
Der Begriff Multiperspektivität beschreibt dabei ein Prinzip des historischen Lernens, bei dem historische Sachverhalte aus Perspektiven verschiedener Beteiligter dargestellt werden. Dabei wird zwischen Multiperspektivität der Quellen, Kontroversität der Darstellungen und Pluralität der Schülerdeutungen unterschieden. Die Lernenden erfahren bei der Behandlung von Quellen, dass verschiedene Quellen völlig verschiedene Perspektiven auf dasselbe Thema liefern können. Hier werden entscheidende Grundlagen für das wissenschaftliche Arbeiten an Universitäten gelegt.
Der Begriff Handlungsorientierung meint, dass die Handlung von Schülern die Lerninhalte aufgreifen und sie mit der Lernlogik der Schüler sinnvoll verknüpft werden. Dabei werden die Schüler selbst zu Akteuren im Geschichtsunterricht, indem sie in Lerngruppen Plakate, Collagen oder Dioramen aus den inhaltlichen Ergebnissen des Unterrichts erstellen. Dabei ordnen sie die Inhalte selbstständig sinnvoll an und erstellen kreative Arbeiten, die ihnen das Behalten der Unterrichtsergebnisse erleichtern. Bei der simulativen Handlungsorientierung werden durch Rollenspiele, Debatten und Planspielen die Schüler in die Situation der historischen Persönlichkeiten hineinversetzt. Eine sehr neue Methode der realen Handlungsorientierung ist die Herstellung von eigenen Weblogs zu einem historischen Thema.
Moderner Geschichtsunterricht rechtfertigt sich vor allem dadurch, dass er für die Lernenden Relevanz schafft. Die Behandlung von historischen Themen ist deshalb immer mit Leitfragen verknüpft, die ein für die Lernenden relevantes Problem darstellen. Geschichtsunterricht folgt also dem Prinzip der Problemorientierung. Dabei wird im Einstieg mit den Schülern ein Problem erarbeitet, das in einer konkreten Leitfrage für den weiteren Unterrichtsverlauf mündet und zum Ende der Stunde gelöst wird.
Gymnasialer Unterricht sollte auch immer auf den Kontakt mit anderen Kulturen innerhalb oder außerhalb Deutschlands vorbereiten. Geschichtsunterricht tut dies, indem er den Schülern Alteritätserfahrungen bietet. Durch die Behandlung der Geschichte anderer Kulturen, ob bereits untergegangener oder existierender, wird durch „Fremdverstehen“ einerseits die Selbstverständlichkeit der eigenen Lebenswelt in Frage gestellt, andererseits die Andersartigkeit anderer Kulturen und Lebensweisen als wertvoll, gerechtfertigt und interessant akzeptiert. Eine solche interkulturelle Fähigkeit ist für das spätere Leben der Schüler in einer multikulturellen Gesellschaft und in einer globalisierten Welt von großer Bedeutung.
Dabei hat der Geschichtsunterricht auch die Aufgabe, die Heranwachsenden mit den grundlegenden Werten unserer Gesellschaft vertraut zu machen. Idealerweise schafft die Behandlung historischer Themen durch die Zurückführung von als „gegeben“ angesehenen „Fakten“ auf die Bedingungen ihres Werdens die Einsicht, dass eine Gesellschaft auf Werten basiert. Geschichtsunterricht leistet also auch Werterziehung, indem er Schülern den Wert einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft näher bringt und sie mit den grundlegenden aufklärerischen und christlichen Werten unserer Gesellschaft konfrontiert. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Werten ist dabei ausdrücklich erwünscht und besonders wertvoll.
Gerade durch die immer stärker werdende inhaltliche Dichte des Lehrplans durch die Unterrichtsverkürzung des G8 ist die Anschaulichkeit durch didaktische Reduktion von besonderer Wichtigkeit. Historische Themen werden dabei gezielt auf ihre wichtigsten Kernaspekte reduziert, um sie für die Schüler anschaulich zu machen und um Ergebnisse möglich zu machen. Dabei werden die Themen nicht nur vereinfacht, sondern nach der Lebenswelt der Lernenden gezielt auf relevante Themen fokussiert. Im siebten und letzten Unterrichtsprinzip geht es darum, wie man für Schüler Zugänge zur Geschichte schaffen kann. Zugänge können dabei leicht über historische Persönlichkeiten gelegt werden. Durch Personalisierung wird der Fokus einer Geschichtsstunde gezielt auf eine entscheidende historische Persönlichkeit gelegt, die als Identifikationsfiguren dienen und kontrovers diskutiert werden können. Genau andersherum wirkt die Personifizierung, bei der der Fokus auf exemplarischen Persönlichkeiten mit typischen Merkmalen der Zeit liegt, z.B. Knappen oder Ritter im Mittelalter. Dabei ist es besonders wertvoll, wenn sich die Schüler eine eigene Persönlichkeit ausdenken und diese durch eigene Gestaltung lebendig werden lassen.
Anhand dieser sieben Prinzipien des modernen Geschichtsunterrichts werden die heranwachsenden Schüler in vielschichtiger Weise auf die Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens und des Arbeitsalltags in Europa vorbereitet:
Das wichtigste Ziel ist die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins, das letztlich vor allem die Identität der Lernenden fördert (Identitätsförderung). Sie sind durch den Geschichtsunterricht in der Lage Beispiele aus der Geschichte zur Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit zu nutzen, entwickeln die Fähigkeit zu kritischem Denken und zu kritischem Herangehen an festgefahrene Sichtweisen und Doktrinen, setzen sich mit den Hintergründen der sie umgebenden Umwelt auseinander und hinterfragen ihre eigene Rolle in einer sich stets verändernden Gesellschaft. Die Schüler werden außerdem durch die Entwicklung einer breiten Allgemeinbildung für das sinnvolle Leben und Arbeiten in der Gesellschaft vorbereitet. Dabei spielt auch die schon genannte Werterziehung eine Rolle.
Die Beschäftigung mit Geschichte gibt den Lernenden nicht zuletzt ein wichtiges Rüstzeug für ihr späteres Arbeitsleben mit: Geschichte schult fächerübergreifend methodische Kompetenzen, die die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens im universitären Studiums legen. Schüler lernen Methodik, wenn sie Quellen interpretieren und die wichtigen Schritte einer erfolgreichen Quellenkritik kennenlernen und einüben. Dies ermöglicht ihnen z.B. später Aussagen in Zeitungsartikeln nicht nur genau zu verstehen, sondern sie auch kritisch zu hinterfragen und aus dieser Kritik Schlüsse für sich selbst zu ziehen.
Wie oben ausgeführt, leistet moderner Geschichtsunterricht, vor allem unterstützt durch neue Methoden, den Einsatz neuer Medien und offener Unterrichtsformen einen entscheidenden Beitrag zum Bemühen der deutschen Schulen, verantwortungsvoll handelnde junge Menschen für die Zukunft zu bilden.
(Auszug aus dem Essay von Manfred Pretz – http://histoproblog.org/2014/03/06/warum-wird-an-gymnasien-geschichte-unterrichtet/ – Literaturhinweise sind ebenfalls dort zu finden.)
Didaktische Grundlagen des Geschichtsunterrichts
Nützliche Links
Bundeszentrale für politische Bildung:
http://www.bpb.de/geschichte
historicum
Geschichtswissenschaften im Internet:
http://www.historicum.net/home/
Histoplog – Geschichte macht Schule:
http://histopro.wordpress.com/
Deutsches Historisches Museum –
Lebendiges Museum Online:
http://www.dhm.de/lemo/home.html
Europäische Geschichte online:
http://www.ieg-ego.eu/
Haus der Geschichte –
Lebendiges Museum Online:
http://www.hdg.de/lemo/home.html
Geschichte kompakt:
http://www.geschichte-abitur.de/
Imperium Romanum
http://www.romanum.de/mein.php
shoa.de – deutschsprachiges internetportal zum thema shoah und holocaust:
http://www.shoah.de/index1.html
https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de
Gedenkstätte Grafenau e.V.
http://gedenkstaette-grafeneck.de/
KZ-Gedenkstätte Dachau:
http://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/